In der Soziokratie gibt es keine Hierarchie… richtig?

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“Gibt es in der Soziokratie eine Hierarchie?” ist eine recht häufig gestellte Frage. Und da meist erwartet wird, dass ich Nein sage, sage ich immer Ja. Warum? Es ist die beste Art, in ein gutes Gespräch zu kommen. Denn die wirkliche Antwort kann nur in einem Gespräch gegeben werden, nicht mit einem kurzen Ja oder Nein und auch nicht mit einem Slogan.

Die Frage nach der Hierarchie ist eine ähnliche Frage wie “Gibt es Vorgesetzte in der Soziokratie?” Wie Du jetzt vielleicht schon erraten kannst, würde ich sagen, ja, es gibt Vorgesetzte in der Soziokratie. Ich hoffe, dass dich das wenigstens ein bisschen überrascht! Wie passt das zu den vielen Schlagzeilen, die wir über flache Organisationen, Organisationen ohne Vorgesetzte und Selbstorganisation gehört haben? Wie kann die Soziokratie, die als Grundlage für die Holacracy diente, Hierarchie beinhalten? Wurde uns nicht versprochen, dass ohne Vorgesetzte alles anders, glänzender und effektiver laufen würde?

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Es kommt alles darauf an, wie man die Worte “Hierarchie” oder “Vorgesetzte” interpretiert. Wenn “Hierarchie ein System oder eine Organisation ist, in der Menschen oder Gruppen aufgrund von […] Autorität übereinander angeordnet sind” (so definiert Wikipedia Hierarchie), dann lautet die Antwort eindeutig Nein, in der Soziokratie gibt es keine Autorität in dem Sinne, dass irgend jemand Macht über dich hat. Aber es gibt durchaus eine Hierarchie.

Hierarchie = Ebenen der Spezifität

Es gibt eine Hierarchie, aber es ist  keine Hierarchie von Menschen, sondern eine Hierarchie von Spezifitätsebenen. Die Fragen, mit denen sich eine Arbeitsgruppe (Kreis) in einer Werkstatt beschäftigt, unterscheiden sich von den Fragen, die in einem Kreis gestellt werden, der einen 5-Jahres-Plan für das ganze Unternehmen entwirft. Das bedeutet nicht, dass eine Ebene der Arbeit wertvoller oder schwieriger als andere ist. Es bedeutet nur, dass es sich um verschiedene Ebenen handelt, auf die man achten muss. Jeder Mensch trifft in seinem persönlichen Leben Entscheidungen in einem engen Rahmen, z.Bsp. Was esse ich zu Mittag? und Entscheidungen, die größere Auswirkungen haben: Ziehe ich ins Ausland?. Wenn wir uns nur mit der Frage beschäftigen, ob wir ins Ausland ziehen oder nicht, gibt es kein Mittagessen. Wenn wir uns nur auf die Essensplanung konzentrieren, vernachlässigen wir andere Bereiche unseres Lebens. Und wenn ich beim Kochen über Umzugspläne nachdenke, gelingt mein Essen wahrscheinlich nicht so gut. Ich weise auf diese drei Erkenntnisse hin:

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  • Jede Organisation verfügt über einen unterschiedlichen Grad an Spezifität.
  • Wir müssen auf alle Ebenen achten.
  • Wir werden bessere Ergebnisse erzielen, wenn wir uns auf die Ebene konzentrieren, mit der wir gerade zu tun haben.

Auf diese Weise ist  die Hierarchie eine Hierarchie der Kreise. In einer Organisation, die einen gemeinsam genutzten Fitnessraum verwaltet, kümmert sich eine Gruppe um die Gewichte. Andere kümmern sich vielleicht sich um die Laufbänder. Wieder andere beaufsichtigen die Reinigung. All diese Aufgaben müssen erledigt werden. Oder anders betrachtet: stellen wir uns vor, wir ordnen das gesamte Spielzeug im Zimmer deines Kindes. Spielzeugautos kommen in Kisten. Kartons in den Mülleimer. Die Kästen kommen in die Regale. Es gibt einen Platz für alles und alles hat seinen Platz. Moralische Urteile spielen keine Rolle. Spielzeugautos sind nicht weniger wert als Kästen oder Regale. Diese verschachtelten Domainen  der Autorität geben uns einfach Klarheit darüber, wer sich um was kümmert. In unseren Schulungen bedienen wir uns oft eines kleinen Tricks: wir drehen eine Organisationsstruktur um 90 Grad, sobald sich die Teilnehmer daran gewöhnt haben, sie auf eine bestimmte Weise zu sehen. Jede der nachstehenden Organisationsstrukturen beschreibt die gleichen verschachtelten Kreise. Und jede stellt die gleichen Hierarchien da: vom allgemeinen zum spezifischen oder vom spezifischen zum allgemeinen.

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Nachdem wir besprochen haben, welche Art von Hierarchie es in der Soziokratie gibt, wollen wir uns ansehen, welche Art von Hierarchie es nicht gibt. Es gibt keine Hierarchie der Macht oder Dominanz. In der Soziokratie sind verschachtelte Kreise doppelt miteinander verbunden: zwei Mitglieder eines Kreises sind gleichzeitig Vollmitglieder eines anderen, höheren/niedrigeren, allgemeineren/spezifischeren Kreises.

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Entscheidungen werden im Konsent getroffen, d.h. eine Entscheidung kann nur dann getroffen werden, wenn niemand Einspruch erhebt. Das bedeutet, dass ein “höherer” Kreis nur mit Konsent der Mitglieder, die auch Mitglieder des mit ihm verbundenen “unteren” Kreises sind, eine Entscheidung treffen kann.

Die doppelte Verlinkung in Verbindung mit der Entscheidungsfindung durch Konsent verhindert nicht nur die Macht über andere, sondern dient auch dem Informationsfluss. Der “höhere” Kreis erfährt, was der “untere” Kreis vorhat, und umgekehrt. Traditionell stellt die Leitung des “unteren” Kreises die Verbindung von “oben nach unten” dar, während ein*e Delegierte*r die Verbindung “von unten nach oben” herstellt. Die Informationen können in beide Richtungen fließen, so dass stets ein Gleichgewicht der Macht besteht und Transparenz geschaffen wird. Je mehr wir darüber wissen, was andere Kreise planen und welche Problemen sie haben, desto besser können wir ihre Bedürfnisse berücksichtigen. Dies verringert die Reibung und erhöht die Effektivität innerhalb und zwischen den Teams.

Sind Führungskräfte Vorgesetzte?

Jeder Kreis hat eine*n Kreisleiter*in. Ist diese Führungskraft gleichzusetzen mit einem “Vorgesetzten”? Genauso wie Hierarchie hier nicht mit Macht über andere gleichzusetzen ist, bedeutet eine Führungsrolle innezuhaben nicht, dass man ein Vorgesetzte*r ist. Es ist sinnvoll, eine Kreisleitung zu haben, weil es am einfachsten ist, wenn eine Person das Ganze im Auge behält. Die Leitung muss nicht alle Arbeit machen, aber sie kann auch nicht keine Arbeit machen. Alle Mitglieder des Kreises leisten ihren Beitrag, aber die Leitung sorgt dafür, dass alles erledigt wird. Alle Kreismitglieder sind zu 100 % verantwortlich, aber die Leitung hat die besondere Aufgabe, auf das Ganze zu achten: ein*e Chef*in unter Gleichen.

Es gibt Chef*innen!

Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Leitung – wie alle anderen Mitglieder des Kreises – den Grundsatzentscheidungen des Kreises verpflichtet ist, die bestimmen, was getan wird und wie es getan wird. Diese Entscheidungen werden durch Konsent im Kreis getroffen. Alle Kreismitglieder sind an die vom Kreis festgelegten Entscheidungen gebunden. Daher ist die Aussage, dass es in der Soziokratie keine Vorgesetzten gibt, nicht korrekt, wenn “keine Vorgesetzten” bedeutet, dass alle jederzeit tun können, was sie wollen. Die Soziokratie ist keinesfalls führungslos. Die Führungskraft hält die Kreismitglieder für das verantwortlich, wozu sie sich selbst verpflichtet haben. (Und hört sich an, welche Hindernisse es gibt.) Wenn man den Begriff “Chef*in” wirklich verwenden will, dann agiert der Kreis als Vorgesetzter, und die Leitung assistiert und vollstreckt die Massnahmen des Chefs (des Kreises). Da alle Mitglieder Teil des Kreises sind, seid Ihr Eure eigenen Vorgesetzten, als Kreiskameraden.

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Es gibt keine Vorgesetzten!

Führungskräfte in der Soziokratie sind eher wie Laufpartner. Ihr entscheidet gemeinsam, wie weit und wie schnell ihr laufen wollt. In einer Organisation ist das vergleichbar mit der Ebene der Grundsatzentscheidugen. Du könntest alleine laufen, die gleiche Strecke im gleichen Tempo. Aber es ist einfacher, aus dem Bett zu kommen und Verantwortung zu übernehmen, wenn dein Laufpartner auf dich wartet und dich an dein Versprechen erinnert, um 06.25 Uhr da zu sein! Bedeutet das auch Macht über andere zu haben? Ganz und gar nicht. Du bist zum Laufen gekommen, weil du wolltest. Es stimmt also nicht, zu sagen, dass es Vorgesetzte gibt, wenn wir damit “Macht über andere” meinen. All die Slogans vom “Arbeiten ohne Chef*innen” sind eine Vereinfachung, und werden der Art und Weise, wie Macht und Rechenschaftspflicht in der kreisbasierten Governance ausgewogen und geteilt sind, nicht gerecht.

Hierarchie der Spezifität und Rollen

Als Kreismitglieder übernehmen die einzelnen Personen Rollen innerhalb des Bereichs ihres Kreises. Ein einfaches Beispiel: Stelle dir einen Kreis vor, der sich um alle gemeinsam genutzten Räume einer Organisation kümmert (Küche, Flure, Fitnessraum und so weiter). Im Küchenkreis könnte es eine “Kühlschrank-Königin” geben, die die Aufsicht über den Kühlschrank hat. Sie achtet darauf, dass sich kein Schimmel zwischen den Resten ausbreitet und erinnert die Nutzer*innen daran, ihren Namen auf ihr Mittagessen zu schreiben. Wenn es um Grundsatzentscheidungen geht (z. B. “starten wir ein kleines Budget für geteilte Lebensmittel wie Milch und Kaffee?” oder “Können nicht gekennzeichnete Lebensmittel von allen gegessen werden?”), trifft der Kreis diese Entscheidungen einvernehmlich. Die “Kühlschrank-Königin” sorgt dann dafür, dass alles reibungslos und im Rahmen der Richtlinien abläuft. Rollen haben die Befugnis, im Rahmen der bestehenden Richtlinien zu handeln, und brauchen innerhalb derer nicht immmer wieder neu um Erlaubnis zu bitten. Die Entscheidungsbereiche der Rollen sind Teilbereiche des Gesamtbereichs des Kreises, dem sie angehören. (Nicht jeder Teilbereich des Kreises muss in der Soziokratie einer Rolle zugeordnet werden, der Kreis kann als Ganzes Aufgaben übernehmen, die nicht an individuelle Rollen delegiert werden).

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Genau wie in der Holacracy kann eine Person mehr als eine Rolle innehaben. Unsere “Kühlschrank-Königin” kann gleichzeitig “Spezialistin für soziale Medien” sein und sich ausserdem um die Internet Server kümmern. Das bedeutet, dass die Rollen in Beziehung zueinander und zum Kreis stehen, in dessen Bereich diese Rollen liegen – nicht bestimmte Personen. Diese Unterscheidung ist in der Soziokratie verwurzelt und wird in der holakratischen Terminologie als “Rollen, nicht Seelen” bezeichnet. Die Rollen sind in dem Sinne hierarchisch, als dass sie in den Arbeitsbereich eines Kreises gehören, und die Kreise selbst sind in Ebenen der Spezifität organisiert. Der wichtige Punkt dabei ist, dass weder Holacracy noch die Soziokratie die Menschen in Schubladen stecken, sondern nur die Rollen. Das klingt nach Wortklauberei, ist es aber nicht. Vor allem, wenn man bedenkt, dass eine Person je nach ihren Fähigkeiten und Interessen mehrere Rollen im Unternehmen füllen kann. Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen:

  • Jede Person kann sowohl spezifische als auch abstrakte Rollen füllen. Ich selbst bin ein gutes Beispiel dafür. Ich gehöre zu einer soziokratisch geführten Gemeinschaft mit etwa 90 Bewohnern und bin derzeit derjenige, der das Kinderzimmer mit Kunstmaterialien ausstattet. Ich putze die Fenster des Gemeinschaftshauses. Ich bin Moderator eines Abteilungskreises. Und ich bin derjenige, der den Allgemeinkreis einberuft. Jedes Mitglied kann sich die eigene, passende Rollenmischung zusammenstellen.
  • Dieser Ansatz ist deshalb so attraktiv, weil die Rollen spezifisch genug sind, um Flexibilität zuzulassen. Wenn ein Mitglied zum Beispiel ein kleines Kind hat, ist es leicht, vorübergehend aus einer Rolle auszusteigen und kurzfristig andere Rollen zu übernehmen.
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  • In einer soziokratischen Welt können wir unsere Rollen auch danach kombinieren, wieviel Aufmerksamkeit wir aufbringen wollen. Ein Beispiel: auch wenn ich mich nicht um die Gesamtplanung des Sportteams meiner Tochter kümmere, bin ich vielleicht bereit, ab und zu einen Kuchen für sie zu backen. Ich gestehe auch, dass ich der Eltern-Lehrer-Vereinigung an der Schule keine Aufmerksamkeit schenke. Aber ich bin Teil unserer örtlichen Zeitbank und beaufsichtige die Aufnahme neuer Mitglieder. Unsere Zeit und, was noch wichtiger ist, unsere Aufmerksamkeit ist begrenzt. Ein Ansatz wie die Soziokratie, der Rollen vorsieht, ermöglicht ein dynamisches Gleichgewicht im Leben. Manchmal sind wir Arbeiterbienen: “sag mir einfach, was ich tun soll”, manchmal sind wir Teil der Entscheidungsfindung auf verschiedenen Ebenen der Spezifität.

Gehört werden. Heilen und Umlernen.

Wir sind alle in autokratischen und unterdrückerischen Systemen aufgewachsen. Das Prinzip der Macht über andere umgibt uns überall. Für einige von uns ist es schwer, sich Hierarchie ohne diese Macht über andere vorzustellen – unserer Erfahrung nach gehört beides immer zusammen. Wegen dieses starken Einflusses auf uns, reicht es auch nicht, “Machtstrukturen einfach zu beseitigen”, um sie wirklich hinter uns zu lassen. Um zu heilen, braucht es mehr als nur die Abwesenheit von alten Machtstrukturen. Ich bin vielen Menschen begegnet, die erwarten oder annehmen, dass Macht über andere ausgeübt wird, selbst wenn das nicht der Fall ist. Ich selbst ertappe mich manchmal dabei, aus mangelndem Vertrauen heraus zu reagieren und anzunehmen, benachteiligt oder in der Unterzahl zu sein. Außerdem kann sich Macht durch die Hintertür einschleichen. Nur weil wir auf dem Papier gleichberechtigt sind, heißt das noch lange nicht, dass das in der Praxis der Fall ist. (Das ist fast zu banal, um es auszusprechen.) Wenn wir Machtdynamiken ignorieren, oder Privilegien nicht anerkennen, unterstützt das die zugrunde liegenden Machtdynamiken noch mehr. Deshalb bin ich skeptisch, wenn eine Organisation sagt, dass sie sei “keine Hierarchie” hat. Gleichwertigkeit muss geübt und praktiziert werden. Die Erfahrung der Macht über andere wird Reaktionen auf emotionaler Ebene auslösen, und wir müssen Raum dafür schaffen, um über diese Reaktionen zu sprechen, anstatt die Machtdynamik für abwesend oder “erledigt” zu erklären. Je mehr Probleme offengelegt werden, desto mehr Spielraum haben wir, sie anzugehen.

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Die Heilung von Strukturen der Macht über andere verlangt Zeit, Bewusstsein, Übung und bewusstes Anstrengen. Eine Möglichkeit, die die Soziokratie dafür bietet, sind Runden. Wenn wir uns daran gewöhnen, einzeln und nacheinander zu sprechen, können wir die Unterschiede zwischen den traditionellen Machtinhabern ausgleichen (sei es die Macht durch Rang oder durch Privilegien). Wenn alle auf dem Papier für gleichberechtigt erklärt werden, doch die Leute sich nicht an die Prozesse halten, die bestimmen wer wann und wie lange spricht, verstärkt man die Ungleichheit noch. Teil eines Kreises zu sein – gemeinsam teilzunehmen, wirklich als Gruppe – ist transformativ, weil es uns ermöglicht, Gleichheit im doppelten Sinne des Wortes zu üben: (1) Gleichheit im Handeln, zum Beispiel durch Runden oder Doppelverkoppelung. (2) Und üben im Sinne von Selbst-Training. Gleichwertigkeit hat keinen “Start”-Schalter. Wir müssen immer wieder zuhören und uns zu Wort melden, um unsere Erwartungen und erlernten Muster zu durchbrechen. Je mehr Vertrauen wir gewinnen, dass in unserer Organisation keine Macht über andere ausgeübt wird, je mehr lernen wir selbst umzudenken, so dass wir heilen können.

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